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Ein Labyrinth aus 400000 Büchern

Pfarrer führt ungewöhnliche Bibliothek: DDR-Exemplare von Müllhalde gerettet

Von unserem Mitarbeiter Thomas Joerdens


"Tach", begrüßt Martin Weskott seinen Gast, ohne sich mit langen Vorreden aufzuhalten. Soeben hat der Pfarrer der kleinen Gemeinde Katlenburg in der Nähe von Göttingen seinen blauen Bulli neben dem Magazingebäude auf dem Burgberg geparkt, der in dichten Nebel gehüllt ist. Der Turm der St-Johannes-Kirche ist nur zu erahnen und die übrigen Gebäude der 900 Jahre alten einstigen Kloster- und Schlossanlage wirken an diesem kühlen Vormittag trist. Schade auch, dass bei diesem Wetter der herrliche Ausblick ins Harzvorland verwehrt bleibt.

Baskenmütze und Rauschebart

Pfarrer Weskott genießt die Reize der Landschaft seit 26 Jahren; so lange betreut er schon die evangelische Kirchengemeinde, zu der die Dörfer Katlenburg, Suterode und Wachenhausen gehören. Der Pastor mit der Baskenmütze und dem grau wucherndem Rauschebart nimmt die drei Stufen zur Magazintür und zückt den Schlüsse. Das breite Haus diente in den vergangenen Jahrhunderten als Scheune, Schrotmühle sowie als Lager für Fruchtweine und Betten der Gemeindeschwestern. Seit 1991 beherbergen die Räume die größte Dorfbibliothek weit und breit und vermutlich auch die chaotischste. In der "Bücherscheune" lagen in den 1990er Jahren zeitweise über 800000 Bände; heute stapelt sich dort noch gut die Hälfte, schätzt Martin Weskott. Der Bücherberg gab ihm den Spitznamen "Bücher-Pastor". Der 54-jährige könnte auch Bücher-Retter, Bücher-Spender, Literatur-Vermittler genannt werden.

Christa Wolf, Volker Braun

Der Hausherr greift nach dem erstbesten Taschenbuch aus einem Regal beim Eingang und legt los. "Hier 'Stalin verlässt den Raum' von Stefan Heym haben wir bei unserer ersten Sammlung auf der Müllkippe gefunden." Martin Weskott geht voran. Allzu kräftig sollte man in den engen neonbeleuchteten Gängen des klammen Bücher-Labyrinths nicht sein. Der Pfarrer zeigt wahllos auf die bunt verstreuten Werke von Christa Wolf, Rainer Kirsch, Volker Braun, Helga Schütz und von den anderen bekannten oder weniger bekannten DDR-Schriftstellern. Martin Weskott blättert in illustrierten Kinderbüchern von Manfred Bofinger, deutet auf Bände mit tschechischer Lyrik und russischen Märchen. Er greift nach Heinrich Mann, Leo Tolstoi, Karl May, holt Kunst- und Bildbände hervor, führt in eine Ecke mit Fachbüchern und erinnert an die gesammelten Reden des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Alle diese Bücher aus DDR-Produktion haben Weskott und einige Helfer von 1991 bis 1992 auf etwa zehn Müllhalden im Leipziger Raum aufgelesen.
Nach der Wende wurden die Altbestände der Verlage, Buchhandlungen, Antiquariate, Bibliotheken verklappt. man schuf Platz für Massenware aus dem Westen und entsorgte bei der Gelegenheit das literarische Gedächtnis ostdeutschlands sowie einen wesentlichen Teil seiner kulturellen Vergangenheit. Als Martin Weskott , aufmerksam geworden durch ein Haldenfoto in einer Tageszeitung, das erste Mal auf einer Büchermüllkippe stand, packte den ruhigen Kirchenmann aus Niedersachsen der Zorn. Er hätte nicht gedacht, dass nach der Bücherverbrennung durch die Nazis eine weitere Büchervernichtung im großen Stil möglich sei.
Der Pfarrer zögerte nicht. Er belud seinen VW-Bus mit Büchern und kehrte die darauf folgenden Wochenenden mit einem geliehenen Getränkelaster zurück. So fanden tausende von gebundenen Werken sowie Paperback-Ausgaben den Weg in die alte Scheune auf dem Burgberg. "Das war nur die Spitze eines Eisbergs", sagt Martin Weskott und setzt die Besichtigungstour fort. Im nächsten Magazin-Trakt lagern auf zwei Ebenen und bis an die Gewölbedecken noch mehr Bücher, unter deren Last sich manches Regalbrett gefährlich biegt.

Makulaturen und Ladenhüter

Das Projekt "Bücher aus der DDR für Brot für die Welt" entwickelt sich zu einem Selbstläufer. Fortan schicken Verleger, Händler, Antiquare und Bibliothekare aus Ost und West ihre Makulaturen und Ladenhüter, den Ballast uns Ausschuss nach Katlenburg. Die Bücherstelle wächst, und das Kind erhält 1997 einen neuen Namen: "Bücher weitergeben statt wegwerfen". Zwei Jahre zuvor wurde ein Trägerverein gegründet. Auf das Sammeln und Sichten folgt das Weitergeben. Martin Weskott öffnet die "Bücherscheune" jeden Sonntag nach dem Gottesdienst. In den Räumen mit den meterhohen Bücherbergen und endlosen Regalreihen weisen selbst gemalte Schilder auf über 30 unsortierte Themengebiete hin. Dort wühlen Leseratten nach Stoff oder Liebhaber nach ganz speziellen Bänden. Regelmäßig fragen Autoren aus der ehemaligen DDR nach Restexemplaren ihrer Romane, oder es klopfen Wissenschaftler an. So stammt die Fachliteratur für die Konstruktion eines Spektral-Photometers für die Saturn-Sonde "Cassini" aus Weskotts Müllbücher-Bestand. Der Pfarrer bekommt seitenweise Wunschlisten und versorgt Schulbibliotheken, Kindergärten, Museen zwischen Katlenburg und Shanghai mit Bücherpaketen. Während unseres Rundgangs greift der "lebende Katalog" immer wieder gezielt nach angefragten Büchern in den Stapeln. Martin Weskott begreift Literatur als intellektuelles Futter in einer schnelllebigen Konsumgesellschaft. Wenn er von seiner Bücherverbreitung spricht, gefallen ihm Vergleiche mit der "Speisung der 5000" oder den so genannten Brockenstuben. Das sind schweizerische Hilfseinrichtungen, die Martin Weskott als Theologiestudent in Basel und Bern erlebt hat. Den Pfarrer umtrieb noch ein anderer Gedanke, als er auf den Müllkippen verschimmelte, zerfledderte, ramponierte Bücher ohne Ende liegen sah. Der Fall der Mauer bot die einmalige historische Möglichkeit, dass sich Ost und West hätten begegnen können. Im Fall der DDR-Literaten wurde die Chance vertan. "Die Mehrzahl der DDR-Schriftsteller hat im Westen niemand wahrgenommen; dort ist man gleich zur Tagesordnung übergegangen", beklagt Martin Weskott. Er hat viele der geretteten Bücher gelesen und zahlreiche Autoren kennen gelernt. Nicht nur die Werke, auch die Schreiber selbst seien häufig in der Versenkung verschwunden und verbittert. Pen-Mitglied Martin Weskott, der für sein Engagement bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, hat sich mit den Jahren zu einem Spezialisten in Sachen DDR-Literatur entwickelt. Um die verpassten Ost-West-Dialoge wenigstens im Kleinen nachzuholen etablierte der Bücherretter in seiner Kirchengemeinde 1992 die Reihe "Müll-Literaten lesen", bei der 150 namhafte und unbekannte Ost-Autoren zu gast waren. Seit 2003 gibt es eine gesamtdeutsche Fortsetzung mit jährlich 20 Lesungen.
Die Bücheraktion sei natürlich eine Riesenherausforderung gewesen, gibt der Pfarrer zu. Doch die große Resonanz wiege alle Mühen auf. Außerdem könne er nicht einfach dem lauf der Welt zuschauen "Da darf man nicht ängstlich sein", sagt der bescheidene Kämpfer zum Abschied. Dann steigt er in seinen Bulli und verschwindet wieder im Katlenburger Nebel.